Freitag, 21. Juni 2019

Im Bild(e) sein

Letzte Woche waren wir im Zoo (Bioparc Valencia), diese Woche im Aquarium (Oceanografic Valencia).
Im Zoo war vor wenigen Wochen ein kleiner Gorilla zur Welt gekommen. Kein Wunder, dass sich vorm Gorilla - Gehege die Menschen drängten. Aber die meisten schauten gar nicht in das Gehege hinein, sondern standen mit dem Rücken zu den Tieren. Warum? Weil sie Selfies mit den Gorillas im Hintergrund aufnahmen. So lange, bis sie mit der Qualität der Aufnahme zufrieden waren.
Im Groß-Aquarium von Valencia gibt es einen Tunnel, der durch das Aquarium führt, in dem u.a. Haie und Rochen schwimmen. Man sieht diese eindrucksvollen Tiere neben sich und über sich durchs Wasser gleiten. Doch auch hier folgt nicht das Auge den Bewegungen der Tiere, sondern die Frontkamera des Smartphones.
 
Warum gehen Menschen in einen Zoo, in dem es, sagen wir mal, Löwen zu sehen gibt? Es gibt hunderte von Tierfilmen zu allen bekannten Spezies, in denen ich Löwen bei der Jagd beobachten kann, statt wie im Zoo nur beim Dösen oder Im-Kreis-herumlaufen.
Die Menschen gehen in den Zoo, weil sie die Löwen als echte Tiere wahrnehmen möchten.
Warum aber schauen heute viele Besucher die Tiere gar nicht mehr direkt an?
Weil es ihnen nicht um die Tiere geht, sondern um sich selbst. Sie wollen nicht das Nashorn sehen, das Stärke ausstrahlt und mit seiner dicken Haut archaisch aussieht, sondern sie suchen lediglich einen neuen Hintergrund für ein im Wesentlichen stets gleichbleibendes Motiv: sich selbst.
Zoos und Großaquarien behaupten seit einiger Zeit, sie hätten einen ökologischen Auftrag, weil sie durch ihr Angebot dafür sorgten, dass der Schutz bedrohter Tiere immer wieder neu ins  Bewusstsein gerufen werde. Denn nur was man kenne, könne man auch schützen wollen. Diese Selbstrechtfertigung wird durch das oben beschriebene Verhalten zahlreicher Besucher ad absurdum geführt, die nichts kennenlernen und sich nicht informieren wollen, sondern Tiere in Gefangenschaft als Fotoposter verwenden. 
Vielleicht sollten die aufwendig gestalteten Plakate, die über die Lebensbedingungen der Tiere in freier Wildbahn sowie den aktuellen Bestand informieren, zukünftig in Spiegelschrift verfasst werden: so könnten wenigstens die sicherlich zahlreichen Follower auf Instagram in den Genuss dieser Informationen kommen - und sie an die Fotografen weiterleiten.

Paar ohne Smartphone (unten rechts) vor düsterem Abendhimmel
 

Dienstag, 11. Juni 2019

Bilderbuch-Gedichtinterpretation

Was machen Deutschlehrer in den Ferien? Natürlich Gedichte interpretieren.

Bei dem Gedicht 'Wenn kleine Tiere schlafen gehen' von Anne-Kristin zur Brügge handelt es sich um ein insgesamt achtstrophiges Werk, dessen letzte Strophe sich durch einen deutlich erhöhten Umfang von den anderen Strophen abhebt. Editionstechnisch nimmt auch die erste Strophe eine Sonderstellung ein, da sie auf der Buchrückseite abgedruckt und somit scheinbar inhaltlich nachgeordnet ist. Tatsächlich handelt es sich bei diesen vier im Paarreim gereimten Versen um die Einleitung in das Gedicht: Es werden Raum und Zeit (V. 1: "Im sanften Mondschein") sowie das Thema, nämlich die Art und Weise, wie kleine Tiere - also Jungtiere, nicht kleinwüchsige Tiere - einschlafen (V. 1f.: "kannst du sehen/ wie kleine Tiere schlafen gehen"), angesprochen; auch die Adressierung an ein "du" (V. 1), also den impliziten Rezipienten, wird hier direkt deutlich. Sie wird in der Schlussstrophe wieder aufgenommen.
Die in der hier angenommenen Reihenfolge sich an diese einführende Strophe anschließenden sechs aus vier im Paarreim angeordneten Strophen folgen einem ähnlichen Muster: sie alle berichten den Vorgang, dass ein tierisches Elternteil sein Tierjunges durch verschiedene Handlungen zum Einschlafen bewegt. Die folgenden Tiere werden dabei vorgestellt: Löwe, Maus, Affe, Eule, Katze und Igel. Wie sich zeigt, handelt es sich also weder ausschließlich um heimische noch nur um exotische Tiere, Fleischfresser sind ebenso vertreten wie Pflanzenfresser; auch die Größe der Tiere in ihrer ausgewachsenen Form variiert gewaltig - von der Maus über Igel, Katze und Eule, den nicht näher definierten Affen bis hin zur Großkatze, dem Löwen. Gemeinsam ist den Tieren lediglich, dass sie außer der Eule alle aus der Familie der Säugetiere stammen, was nicht weiter verwunderlich ist, da für die Thematik des Gedichts die Aufzucht der Jungiere durch die Eltern gewissermaßen konstitutiv ist. (Familienähnlichkeiten über die Zugeörigkeit zu den Säugetieren hinaus sind nur noch für die der Familie der Katzenartigen für die "Katze" [gemeint ist mutmaßlich die Hauskatze, Felis silvestris catus] sowie den Löwen [Panthera leo] zu konstatieren, die jedoch unterschiedlichen Unterfamilien zugerechnet werden [Kleinkatzen {Felinae} bzw. Großkatzen {Pantherinae}] und zudem durch drei Strophen voneinander getrennt sind [Strophe II bzw. VI]. Bemerkenswert ist überdies, dass Mäuse in das Beuteschema von Katzen, Eulen und Igeln gehören. Die Absonderung der von den Mäusen handelnden Strophe III von den Strophen V-VII durch die vom Affen handelnde Strophe IV erscheint somit zoologisch geboten.)
Wenn wir nun die Protagonisten der verschiedenen Strophen in den Blick nehmen, so stellen wir fest, dass die Dichterin sich um ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis bei der Darstellung der Tier-Eltern bemüht zu haben scheint: in den Strophen II bis V scheint das grammatische Geschlecht demjenigen des tierischen Elternteils zu entsprechen, ohne dass hierzu etwas Genaueres gesagt wird. Anders ist dies in den Strophe VI und VII, in denen ausdrücklich vom "Kater" (VI, 1) und "Papas Bein" (VI, 4) sowie der "Igelmutter" (VII, 1) die Rede ist.
Divergent ist das Bild, das sich bietet, wenn man die Darstellung der tierischen Einschlafrituale näher betrachtet: Einerseits versucht die Dichterin, durch die Verwendung spezifischer Termini wie "Pfote" (II, 3), "Fell" (II, 4), "Küken" (V, 1), "Nest" (V, 2) und "Tatze" (VI, 1), der Schilderung typischer Verhaltensweisen - wie des Flöhens bei den Affen (vgl. Strophe IV) und des Laubaufschüttens bei den Igeln - , sowie die Nachahmung ("Schuhu schuhu", V, 3) oder Benennung ("schnurrend", VI, 3) tierischer Laute eine authentische Atmosphäre herzustellen. Andererseits lässt sie sich mehrfach zur Vermenschlichung tierischer Verhaltensweisen hinreißen, indem sie die Maus ein Schlaflied singen (III, 3!) oder die Eule "ich hab dich lieb" (V, 3!) sagen lässt.
Die Absicht hinter diesen Abweichungen von der naturalistischen Darstellungsweise wird schließlich in der bisher nicht besprochenen aber wie schon erwähnt hervorstechenden Schlussstrophe deutlich: denn hier werden in einer überraschenden Wendung die Vorgehensweisen der Tiere auf das Einschlafverhalten des Rezipienten, bei dem es sich, wie sich nun herausstellt, um das Kind der Dichterin handelt, bezogen, und aus jeder der die Verhaltensweise eines tierischen Elternteils beschreibenden Strophen eine Aktivität herausgenommen, auf das Kind appliziert und somit eine den Schlaf befördernde Wirkung impliziert. Im Einzelnen handelt es sich um folgende, in der Strophe jeweils einen Vers einnehmende Handlungen: übers-Fell-streichen (wie der Löwe), das-Ohr-kraulen (wie die Maus), Flo-vom-Po-zupfen (wie der Affe), festhalten (wie die Eule), Bauch-streicheln (wie die Katze) und Nase-anstupsen (wie der Igel). Es zeigt sich, dass diese kunstvolle Verknüpfung genau parallel zur vorherigen Anordnung der Strophen verläuft! Zusammen mit zwei einleitenden und zwei abschließenden Versen ergibt sich für diese letzte Strophe eine Versanzahl von zehn. Die abschließenden Verse münden in die Schilderung einer zusätzlichen Handlung, nämlich den "Schmuse-Kuschel-Einschlaf-Kuss" (VIII, 10). Mit diesem Neologismus endet das Gedicht. Der Vers bewirkt zweierlei: er erklärt die gesamte Beschreibung der Handlungen als durch den Vortragenden selbst auszuführende, so dass also an letzter Stelle der Gute-Nacht-Kuss zu stehen habe; zugleich bewirkt der aus nur einem Wort bestehende letzte Vers eine große Müdigkeit beim Rezipienten, die bei glücklichem Einsatz dazu führt, dass er einschläft.
Zur Unterstützung dieses Vorhabens hätte eine höhere Anzahl an klingenden Kadenzen mutmaßlich Einiges beigetragen. Die Kadenzen der Reime sind fast ausschließlich männlich. Klingende Kadenzen sind nur in der Eingangs- ("sehen" - "gehen") und der Katzenstrophe ("Tatze" - "Katze") zu finden.

Die zweifelsohne wünschenswerte Miteinbeziehung der bildlichen Darstellungen konnte im Rahmen dieser Untersuchung leider nicht geleistet werden.