Dienstag, 21. November 2017

Fachbücher und Küchenkram

Tübingen - Universitätsstadt. Die Universitätsbuchhandlung: seit 1596 Osiander, der Platzhirsch. Das zentrale Geschäft, die Hauptniederlassung, befand sich seit Jahren in der Wilhelmstraße, auf der sich zahlreiche Fakultäten und Seminare aneinanderreihen: von der juristischen Fakultät bis zum Seminar für Sinologie und Koreanistik. Überdies befand sich selbiges Hauptgeschäft nur wenige Meter vor der zentralen Bushaltestelle Wilhelmstraße, an der durch den nur in einer Richtung befahrbaren Innenstadt-Ring alle Busse halten müssen.
Die Buchhandlung Osiander kennt eigentlich nur eine Richtung: nach vorn. Seit Jahren expandiert sie im gesamten süd(west)deutschen Raum, übernimmt in diesem Jahr sogar Filialen in Bamberg und Fürth. In Tübingen wurde vor einiger Zeit auch die ehemals eigenständige Buchhandlung Tabula am Holzmarkt übernommen. In unmittelbarer Nähe zum Antiquariat Heckenhauer, in dem Hermann Hesse seine Buchhändler-Lehre absolvierte, zeichnet sich "Osiander Aktuell" seitdem durch ein besonders "niedrigschwelliges", sprich niveauarmes Sortiment aus. Gleiches gilt für die Zweigstelle an der Neckarbrücke, die eine Art zweite Bahnhofsbuchhandlung darstellt ("Osiander City"). Auf der anderen Seite steht die Schließung der Filiale auf der Morgenstelle, die v.a. naturwissenschaftliche Fachliteratur vertrieb, im Jahr 2013.
Nun aber ist das Tübinger Osiander-Netz endgültig umgebaut worden: die bisherige Hauptniederlassung in der Wilhelmstraße wurde geschlossen. Etwa einen Monat zuvor wurde das bisher von einem Eisenwaren-Geschäft genutzte Haus in der Metzgergasse 15 in eine eigene Kinderbuchhandlung umgewandelt. Diese Entfernung der Kinderbücher aus der bereits länger bestehenden "Gemischtwaren"-Osiander-Filiale in der Metzgergasse 25 war gewissermaßen der vorbereitende Schachzug zur Schließung der bisherigen Hauptniederlassung. Die bisher in der Wilhelmstraße angesiedelten Fachbücher (inkl. anspruchsvoller Literatur) wurden dorthin verlagert. Gefeiert wurde zweimal: einmal die Neueröffnung von "Osiander Kids" (!!!), einmal die "Neueröffnung" der Filiale in der Metzgergasse 25 mit einverleibtem Wilhelmstraßen-Sortiment - auch wenn in diesem Fall eigentlich keine Neueröffnung erfolgt ist, höchstens eine Neuöffnung und v.a. eine Schließung. Die wird aber normalerweise nicht gefeiert. Gefeiert wurde aber eifrig: mit einem der entsprechenden Samstagsausgabe des Schwäbischen Tagblatts beigelegten Gutschein, der sich auf alles außer Bücher bezog:

Was mag es in einer Buchhandlung geben, das nicht der Buchpreisbindung unterliegt?


Außerdem gab es ein Sonderangebot zur Umeröffnung, bezeichnenderweise ein als "Kitchen Craft" bezeichnetes Küchenutensil.

Bücher seit 1596 - "Kitchen Craft"

Als Gründe für diese Neuordnung wurden genannt: 1) Der Laden gegenüber der bereits bestehenden Filiale wurde frei. 2) Der Umsatz in der bisherigen Hauptniederlassung ging zurück, angeblich, weil Studierende und sonstige Universitätsangehörige ihre Literatur nicht mehr vor Ort kauften. In der Sonderveröffentlichung der Zeitung wurde eigens darauf verwiesen, dass das Stammhaus seit seiner Gründung schon mehrfach neue Räume bezogen habe. Das klingt schon fast nach schlechtem Gewissen.
Die Verramschung des eigenen Anspruchs war aber auch im bisherigen Stammhaus seit Längerem vorbereitet worden. So wurden die teilweise sorgfältig thematisch gestalteten Schaufenster durch Ramschkästen mit überholten Auflagen von Wörterbüchern und Reiseführern, Malbüchern und billigen Bildbänden zugestellt. Die neue Hauptfiliale bedeutet diesbezüglich einen signifikanten Zuwachs von Ramschkastenmetern.

Ist diese ganze Darstellung nur relevant für die Tübinger Situation? Ich glaube nicht: die veränderte Schwerpunktsetzung ist überall im Buchhandel zu spüren. In anderen Städten war die Entwicklung weg vom (anspruchsvollen) Buch und hin zu Kalendern, Kochbüchern, Topflappen und Spätzleshaker vermutlich sogar noch früher vollzogen worden.
Zusamenfassend lässt sich sagen: wer sich für Fachbücher und anspruchsvolle Literatur interessiert, wird wohl kaum den zwischenzeitlich durch rote Fußspuren auf dem Gehweg markierten Umweg in die Metzgergasse machen, sondern den direkten Weg zu Gastl oder HPWilli finden.
Ich fürchte ja, mit den Buchhandlungen ist es ein bisschen so wie mit den Kirchen: sind sie erst mal aus dem näheren Blickfeld verschwunden, erinnert sich kaum einer noch daran, dass es mal Gründe gab, dort hinein zu gehen.